Lactose, Fructose, Gluten, Hefe … Wer sich gesundem Essen verschrieben hat, kann seine Feinde im Schlaf aufzählen. Doch man kann’s auch übertreiben – sehr sogar. ORTHOREXIA NERVOSA HEISST DIESES PHÄNOMEN. Und das kann deutlich ungesünder sein als Schnitzel, Torte und Weihnachtsbäckerei. BITTE ENTSPANNT BLEIBEN! Wer vor lauter Essensregeln nicht mehr genießen kann, tut sich nichts Gutes. Negative Gefühle, die durch Verbote entstehen, können genauso das Immunsystem schwächen.

Das romantische Dinner, das opulente Familienessen oder das tröstliche Stück Kuchen zum Kaffee: Kein gutes Leben, wenn man auf das alles verzichten soll. Aber manche machen’s ganz freiwillig, und nicht etwa, weil sie abnehmen müssen. „Sie fühlen sich gesunder Ernährung so verpflichtet, dass der Gedanke daran stets präsent ist“, weiß Ernährungsexpertin Christiane Manzenrieder. Was vor lauter Inhaltsstoffe-Checken auf der Strecke bleibt, ist der Genuss und oft die Geselligkeit. „Nicht dürfen“, „sündigen“ und „schwach werden“ sind die Begriffe dieser kulinarischen Überwachung. „Die erst recht ungesund ist“, wie Manzenrieder betont. Denn die negativen Gefühle würden bis in die letzte Zelle schwingen und so letztlich das Immunsystem schwächen. Noch dazu wissen viele gar nicht, was sie wirklich vertragen und was nicht, so die Beraterin, die mittels „Bio-Screening“, einer Art Bio-Feedback, die wahren Unverträglichkeiten ihrer Klientinnen feststellen kann.

Wir wollten von ihr wissen, wie man einen gesunden Lebensstil führt, ohne sich gleich alles zu verbieten. Und was wir von der südländischen Mentalität lernen können.

REDAKTION: „VIELFALT BEIM ESSEN IST DAS GESÜNDESTE FÜR UNS.“

Weihnachtskekse, Punsch und Festtagsbraten: Während es sich die meisten jetzt kulinarisch richtig gut gehen lassen wollen, kommt für alle, die sich möglichst gesund ernähren wollen, die Zeit der besonderen Herausforderungen. Aber das kann man, wie Sie sagen, schwer übertreiben … MANZENRIEDER: Ja, genau. Wenn die Frage, ob ein Essen gesund ist oder nicht, das alleinige Kriterium ist, bleiben der Genuss und die Liebe zum Kulinarischen sicher auf der Strecke. Essen ist aber nicht nur die schönste Hauptsache der Welt, sondern auch wichtig für unser Wohlbefinden. Es kann uns gute Gefühle geben und ist sozial verbindend.

REDAKTION: Und das verhindern wir, wenn nur mehr Gedanken wie „böses Gluten“, „böse Laktose“, „böser Weizen“ im Kopf herumspuken!?

MANZENRIEDER: So ist es. Wenn man wirklich Unverträglichkeiten hat, ist das etwas anderes, aber viele haben sich ja nicht mal testen lassen. Ich hatte zum Beispiel eine Klientin, die mit MagenDarm-Problemen und Kopfschmerzen kam. Sie meinte, sich besonders gesund zu ernähren, weil sie jeden Morgen einen grünen Smoothie aus Stangensellerie, Koriander, Ingwer und Zitrone trank. Bei dem Verträglichkeitstest stellte sich heraus, dass sie das alles, bis auf die Zitrone, gar nicht vertrug.

REDAKTION: Und das gibt es eben auch umgekehrt.

MANZENRIEDER: Ja, richtig. Man vermeidet dieses und jenes, obwohl es gar keinen Grund dafür gibt. Aber jeder Stoff, auch Gluten zum Beispiel, hat seine Aufgabe. Vielfalt beim Essen ist das Gesündeste für uns. Vor allem auch für das Mikrobiom im Darm. Je einseitiger man isst, desto weniger werden unsere Darmbakterien gefordert und gefördert. Ein abgeschwächtes Mikrobiom wirkt sich aber negativ auf unser Immunsystem aus.

REDAKTION: Also keine Angst vor Nudeln, Reis, Weizenprodukten, Schoko und so weiter?

MANZENRIEDER: Nein. Vorausgesetzt, man verzehrt sie in Maßen, und es bestehen keine Unverträglichkeiten oder Allergien. Warum soll ich mir nicht nachmittags zum Kaffee zwei Stück Schokolade gönnen? Gönnen, das macht ein gutes Gefühl, das in alle Körperzellen weiterschwingt. Sich ständig etwas zu versagen, obwohl man totale Lust darauf hat, wirkt negativ auf Körper und Seele, mindert die Lebensfreude und das Wohlgefühl. Man fühlt sich schlecht, weil man „gesündigt hat“. Verurteilt sich selbst, weil in dem Stück Schokolade, zu dem man sich verführen ließ, doch Zucker drin war.

REDAKTION: Das mit dem Zucker stimmt ja an sich auch.

MANZENRIEDER: Exakt. Aber es gilt: Die Dosis macht das Gift. Zucker in verträglichen Mengen spendet uns auch Energie. Gegen etwas Süßes zum Kaffee ist wirklich nichts zu sagen. Vielmehr sollten wir auf einen übertriebenen Verzehr an industriellen Fertigprodukten verzichten, die ebenfalls nicht wenig Zucker enthalten. Das summiert sich dann. Das gilt übrigens auch für vegetarische und vegane Fertigprodukte. Der Punkt ist: Wenn wir beim Essen nicht im Sinne von „Genießen“ denken, sondern von „Sündigen“, und von schlechtem Gewissen begleitet werden, macht das was mit uns. Negative Gefühle und Gedanken schwächen unser Immunsystem messbar.

REDAKTION: Dieses Verhalten kann ja bis zum Ernährungswahn gehen, für den man sogar schon einen wissenschaftlichen Namen hat: Orthorexia nervosa.

MANZENRIEDER: Genau. Darunter versteht man bereits zwanghaft und krankhaft gewordenes gesundheitsbewusstes Essverhalten. Da wird schon das Einkaufen im Supermarkt zum Stress, weil man ständig überprüfen muss, was gesund ist. Anstatt dass man auf seinen Bauch hört, der einem sagen würde, was man gerade braucht. Und die Geselligsten sind von Orthorexia nervosa Betroffene natürlich auch nicht gerade. Sie können ein Dinner in Gesellschaft oder einen abendlichen Restaurantbesuch bei Kerzenlicht und einem Glas Wein ja gar nicht mehr genießen. Und wenn wir mit jemandem am Tisch sitzen, der unser Essen mit Argusaugen inspiziert und dann meint: Gesund ist das aber nicht gerade!, dann vergeht uns auch die Freude daran.

REDAKTION: Gibt es einen Typus, der für so eine Art von Askese besonders anfällig ist?

MANZENRIEDER: Frauen sind davon mehr betroffen als Männer, eher verkopfte Menschen und diejenigen, die sich gerne informieren. Sie haben sich zu einem Teil schon intensiv über Seminare, Bücher und auch über Social Media schlaugemacht, welche Lebensmittel gesund sind und welche nicht. Oft sind es ängstliche Typen mit Kontrollzwang. Perfektionisten, die alles richtig machen wollen. Eher unentspannt. Kein Wunder, wenn sich die Gedanken nur mehr um gluten-, laktosefrei, low carb, low fat drehen, und ja, ich zähle auch vegan dazu. Wie gesagt, alle einseitigen Ernährungsformen führen auch zu Mangelerscheinungen. Veganer zum Beispiel fühlen sich nicht selten energielos und erschöpft, wenn sie nicht entsprechende Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen. Vitamin B-12 etwa, Eisen, Omega-3-Fettsäuren, Vitamin D, Kalcium und so weiter.

REDAKTION: Man möchte halt möglichst lange leben, gesund und schön alt werden …

MANZENRIEDER: Aber ohne Lebensfreude geht das natürlich auch nicht. Mir fällt da eine Kundin ein, eine Italienerin, Mitte 30. Die zeigte beim Testen von Unverträglichkeiten keine einzige Reaktion, was wirklich sehr ungewöhnlich ist. Ich teste immerhin an die 500 medizinische Parameter. „Was machen Sie“, war meine Frage, und sie meinte: „Gar nichts. Ich esse alles.“ Sie ernährte sich einfach mediterran, mit viel Olivenöl, Fisch, Hühnchen, Gemüse, aber auch Weißbrot und Pasta. Eben ausgewogen. Und bei ihren Eltern, die ich später ebenfalls gescreent habe, zeigte sich das Gleiche. Von der südländischen Mentalität mit der Freude am gemeinsamen Essen können wir noch was lernen.

REDAKTION: Wie schaut’s mit dem Kalorienzählen aus? Das kann einen ja auch ziemlich in Fleisch und Blut übergehen …

MANZENRIEDER: Wenn es um Übergewicht und falsche, einseitige Ernährung in Richtung ungesund geht, ist eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten notwendig. Die Menschen brauchen dann schon einen Punkte-Plan, weil sie oft auch das richtige Maß nicht mehr kennen. Eine Eiskugel ja, aber bitte nicht fünf! Gefährlich wird es, wenn man nur hungert, um so dünn zu werden wie Model XY. Das kann zu Bulimie und Magersucht führen.

REDAKTION: Bei den Gesund-Esserinnen geht es hingegen nicht vordringlich ums Abnehmen?

MANZENRIEDER: Nein. Manchmal kommt es einem so vor, als wäre dieses kulinarische Regime, das sie betreiben, sogar etwas wie ein Halt im Leben.

REDAKTION: Wie gesund soll man dann wirklich essen?

MANZENRIEDER: Bio, immer, wenn geht. Alles, was möglichst wenig gespritzt und behandelt ist und nicht von weit her kommt. Selber kochen und vorkochen, Fertigprodukte wegen der Konservierungs- und Aromastoffe meiden, wenig Zucker, viel Wasser trinken, gesunde Fette wie Oliven- oder Leinsamenöl verwenden. Sich möglichst vielfältig ernähren. Und nicht vergessen: Essen ist nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern auch Kultur, die man pflegen sollte. Es gibt ja heute kaum mehr einen Ort außerhalb des Hauses, wo man nicht schnell etwas essen kann, ob im Gehen auf der Straße, beim Autofahren, im Einkaufszentrum, im Stehen am Kiosk. Das kann nicht gesund sein, da sollten viele lieber mal ansetzen. Mahlzeiten, egal wie klein oder groß, gehören einfach wieder mehr zelebriert.

Canva © Flux Factory

Ein Redaktions-Artikel von Miriam Berger, Woman Lifestyle-Magazin Österreichs, Körper & Seele, S. 134-136, Stand: 02.12.2021

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